Mit der neuen vom iGEM-Team der Universität Marburg etablierten Technik können verbesserte Nutzpflanzen deutlich schneller entwickelt werden. Dazu hat das Team sogenannte zellfreie Systeme weiterentwickelt, die es erlauben, genetische Bausteine zu testen, ohne die Erbinformation DNA in eine lebende Zelle einbringen zu müssen. „Dieser zellfreie Ansatz könnte in der Zukunft die Entwicklung neuer Nutzpflanzen rasant beschleunigen, da viele Tests innerhalb eines Tages etabliert, sowie mit hohem Durchsatz durchgeführt werden können, bevor eine lebende Pflanze verändert wird. Ein Testzyklus bei dem ganze Pflanzen eingesetzt werden, nimmt dagegen bislang mehrere Monate bis Jahre in Anspruch“, verdeutlicht Tamina Kirsch, Chemiestudentin und Mitglied des Teams.
Vorteil der Chloroplasten im System
Das Team spezialisierte sich bei seinen Untersuchungen auf Chloroplasten, in denen die Photosynthese abläuft. Chloroplasten bergen einige Vorteile für die finale Anwendung in Nutzpflanzen. So werden genetische Veränderungen im Chloroplasten etwa nicht durch Pollen übertragen und erhöhen so die biologische Sicherheit der Organismen.
Zur Gewinnung der zellfreien Systeme isolierte das Team mit Hilfe eines handelsüblichen Haushaltsmixers Chloroplasten aus unterschiedlichen Pflanzen, bevor diese über einen Dichtegradienten angereichert wurden. In einem nächsten Schritt gewannen die Studierenden die biochemische Maschinerie der Chloroplasten und nutzten sie nachfolgend, um eine Vielzahl von genetischen Bausteinen im Reagenzglas zu testen, ohne dabei gentechnisch veränderte Organismen zu erzeugen. Die Studierenden verarbeiteten im Verlauf ihres Projekts über 100 Kilo Pflanzenmaterial, zum Beispiel Spinat aus dem Supermarkt und Tabak, Weizen und Reispflanzen aus dem Gewächshaus der Universität. Sie sammelten aber auch Blätter von Eichen im Wald, was ihnen erlaubte wissenschaftliches Neuland zu betreten. „Eine Übertragbarkeit der Methode auf beliebige andere Pflanzenarten erscheint somit möglich“, sagt Biologie-Studentin Jessica Baumann. Diese Innovationskraft des Projektes begeisterte selbst internationale Expertinnen und Experten.
Auch bei Hitze- und Trockenstress geeignet
Das Marburger Team konnte zudem zeigen, dass durch Hitze und Trockenstress gesteuerte Bausteine auch in den untersuchten zellfreien Systemen unterschiedlich stark aktiv sind. Die vom Marburger iGEM-Team entwickelten zellfreien Systeme könnten somit nicht nur für die beschleunigte Entwicklung klima-angepasster Nutzpflanzen mit Hilfe von Gentechnik eingesetzt werden. „Mit dem Fortschritt, den das iGEM-Team erzielt hat, scheint auch die zügige Identifizierung von besonders gut für den Klimawandel gerüsteten Wild- und Waldpflanzen in Reichweite gerückt zu sein, die zukünftig für eine nachhaltige Aufforstung eingesetzt werden könnten“, so Jonas Freudigmann, eines der Marburger Teammitglieder.
An Schulen und in der Landwirtschaft präsentiert
Die Fachjury, die aus Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Synthetischen Biologie bestand, prämierte das Team auch für seine Leistungen in den Sektoren Bildung und gesellschaftliche Integration. Diese zielen darauf ab, die Akzeptanz von pflanzlicher Biotechnologie und Gentechnik in der Gesellschaft zu erhöhen – ein aus wissenschaftlicher Sicht dringendes Ziel, um die Nahrungssicherheit in Zeiten des Klimawandels zu verbessern. Zum einen hat das Marburger Team neue Konzepte entwickelt, um Experimente im Bereich der Synthetischen Biologie mit Hilfe von zellfreien Systemen an Schulen zu ermöglichen, welche sonst im Schulalltag aufgrund des Mangels an geeigneten Laboren nicht möglich wären. Das Team suchte zum anderen den Austausch mit Landwirt*innen aus der Region und mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft zum gesellschaftlich kontrovers diskutierten Thema Grüne Gentechnik. In Kooperation mit dem iGEM-Team aus Bielefeld hat das Marburger Team zudem Informationsmaterial und Ressourcen zusammengetragen, um den Projekteinstieg für iGEM-Teams zu erleichtern, die mit phototrophen Organismen arbeiten wollen.
Nach langen Nächten im Labor und der Dokumentation konnte das Team am 13. November in Paris den Gesamtsieg des internationalen Wettbewerbs und 11 weitere Preise feiern. „Wir können es noch gar nicht glauben“ freuen sich Michael Burgis und Cedric Brinkmann, Mitglieder des Marburger Teams.
Betreut wurde das Team von Prof. Dr. Lars Voll vom Lehrstuhl Molekulare Pflanzenphysiologie der Philipps-Universität Marburg, Dr. Henrike Niederholtmeyer, Emmy-Noether-Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie und René Inckemann, Doktorand am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie. Unterstützung erfuhr das Marburger Team auch durch die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Tobias Erb, ebenfalls vom Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie.
Gesamtsieg und Sieg in 11 der 18 Kategorien
Die meisten Projekte in diesem Wettbewerb der Synthetischen Biologie sind mikrobiologisch und medizinisch geprägt, jedoch waren einige iGEM-Teams aus dem deutschsprachigen Raum mit pflanzenbiologischen Themen erfolgreich, wie die von der Fachjury mit Goldmedallien prämierten Projekte aus Bielefeld, Düsseldorf, Tübingen und Zürich zeigen. Allen voran konnte jedoch das Projekt OpenPlast aus Marburg überzeugen, das von der Jury neben dem ersten Platz in der Gesamtwertung in insgesamt 11 von 18 Kategorien mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde.
iGEM (siehe: iGEM-Preistragende und Übersicht der einzelnen Kategorien: https://jamboree.igem.org/results/specials) ist ein internationaler Wettbewerb für Studierende der Synthetischen Biologie, in dem Forschende biologische Funktionen bauen, die es so in der Natur noch nicht gibt. Er wird von der gleichnamigen Stiftung ausgerichtet. Sie verfolgt das Ziel, den neuen Forschungszweig der Synthetischen Biologie in der Öffentlichkeit bekannter zu machen und Studierende zu eigenständigem Forschen anzuregen.
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Im November 2021
Prof. Dr. Lars Voll, Molekulare Pflanzenphysiologie, Philipps-Universität Marburg
Dr. Henrike Niederholtmeyer, Emmy-Noether-Gruppenleiterin Cell Free Systems, Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie
René Inckemann, Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie