Von Tieren, Pflanzen und Pilzen - Konsequenzen des offenen bzw. geschlossenen Wachstums
Zum 7. Pflanzenmorphologischen Workshop (10./11. September 2011) lud meine Arbeitsgruppe ins Institut für Spezielle Botanik Universität Mainz ein. Zwanzig TeilnehmerInnen (darunter drei Studierende und sieben Doktoranden) diskutierten intensiv über grundsätzliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung und Gestaltbildung von Pflanzen, Pilzen und Tieren. Das interdisziplinäre Thema und die reichlich vorhandene Diskussionszeit machten den besonderen Reiz dieses Workshops aus. Unser Dank gilt der Deutschen Botanischen Gesellschaft für die finanzielle Unterstützung.
Regine Claßen-Bockhoff, Mainz, Oktober 2011
Vorträge
Regine Claßen-Bockhoff, Institut für Spezielle Botanik, Universität Mainz:
Tiere, Pflanzen und Pilze leben und überleben in der gleichen Umwelt - und doch auf ganz verschiedene Art und Weise. Wie beeinflusst Autotrophie vs. Heterotrophie die Organisation standortgebundener vs. mobiler Organismen? Welches Entwicklungspotential ergibt sich aus der Präsenz von Stammzellen vs. Meristemen? Sind das stockartige Wachstum und der segmentierte Bau einiger Tiere mit dem offenen Wachstum der Pflanzen vergleichbar? Im Rahmen eines stark generalisierten, konstruktionsmorphologischen Vergleiches werden die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Lebensweise und Entwicklung bei Tieren und Pflanzen aufgezeigt und zur Diskussion gestellt.
Pascal Reisewitz, Institut für Entwicklungsbiologie und Biotechnologie der Pflanzen, Universität Freiburg:
Der Anspruch an pflanzliche Stammzellen ist ein anderer als der an tierische: sie müssen nicht nur zu Regeneration und Wachstum des Organismus beitragen, sondern liefern auch kontinuierlich Material zur postembryonalen Neubildung von Organen. Pflanzliche Stammzellen sind pluripotent und ihre Differenzierung geschieht im Gegensatz zu tierischen Systemen weder schrittweise noch irreversibel. Um eine pluripotente Stammzellpopulation zu erhalten, aber auch um differenzierte Zellen zu Stammzellen umzufunktionieren, sind positionale Signale notwendig. In diesem Vortrag werden einige der Signalwege, die zu Stammzellidentität beitragen, vorgestellt und im Hinblick auf ihre Anpassungen an Umwelteinflüsse und ihre Evolution betrachtet.
Norman Gerstner, MPI Molecular Cell Biology and Genetics, Dresden:
Es werden 5 elementare Prozesse diskutiert, die essentiell für die Entwicklung und das Wachstum mehrzelliger Tiere sind:
- Zell-Wachstum
- Zell-Teilung
- Zell-Differenzierung
- Zell-Migration
- Zell-Interaktion.
Während der Embryonalentwicklung, in adulten Geweben und während der Regeneration, wird die Bedeutung dieser fundamentalen Prozesse beispielhaft erläutert. Der Fokus liegt auf der Integration der Zelle und zellulärer Organisationsprinzipien in die globale Umgebung eines Gewebes oder eines ganzes Organismus, während Wachstum stattfindet. Aktuelle offene Fragen werden an entsprechender Stelle vorgestellt, um in der anschließenden Diskussion erörtert werden zu können.
Meike Piepenbring, Institut für Mykologie, Universität Frankfurt:
Während Hefen aus zahlreichen, in der Regel knospenden Einzellern bestehen, sind Hyphen meist mehrzellig und verantwortlich für Fruchtkörperbildungen. Das Spitzenwachstum, Hyphensepten mit Poren, Verzweigungsmuster und Sporen sind mikroskopisch kleine, strukturelle Aspekte, während verschiedene Fruchtkörperformen und Hexenringe makroskopisch sichtbar sind. Die verschiedenen Strukturen werden in ihrer Vielfalt vorgestellt und soweit möglich im ökologischen Kontext interpretiert.
Peter Berz, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität Berlin:
Der Vortrag stellt die Frage nach dem offenen und geschlossenen Wachstum von einer Naturphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts her: Helmuth Plessners „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928). Pflanzen und Tiere unterscheidet Plessner als zwei grundsätzlich verschiedene „Organisationsideen“: eine offene und eine geschlossene Organisation. Er führt das auf dem Hintergrund des ihm zeitgenössischen botanischen Wissens durch nach Morphologie, Ontogenese, Fortpflanzung, Stoffwechsel und schließlich dem seit Aristoteles traditionsreichen Dispositiv der Selbstbewegung der Tiere und Bewegungslosigkeit der Pflanzen. Letztere wird mit dem Plessner bekannten Stummfilm aus der Werbeabteilung der BASF, „Das Blumenwunder (1926)“ prekär. Der Film zeigt einem breiteren Publikum Wachstumsprozesse und Phototropismen von Pflanzen im Zeitraffer. Plessners Denken läuft schließlich – mit und gegen Max Scheler – auf die Frage zu: Warum kann die offene Organisationsform weder empfinden noch handeln?
Irmgard Jäger-Zürn, Königstein im Taunus:
Durch Insekten verursachte Gallen an höheren Wasserpflanzen sind unbekannt mit einer Ausnahme: An der tropischen Wasserpflanze Mourera fluviatilis, Podostemaceae, wurden durch Zuckmücken (Chironomiden) verursachte Gallen beschrieben (Bidawid & Fittkau 1995). Jetzt sind weitere Gallen an anderen Podostemaceen gefunden worden. Der Darstellung dieser Fallbeispiele war eine allgemeine Thematisierung der Morphologie von Pflanzengallen vorangestellt. Pflanzengallen stellen eine hochspezialisierte Interaktion von Tier und Pflanze dar. Da Gallen in der Botanik unter dem Begriff Phytopathologie geführt werden, ist die Kenntnis, selbst der Morphologie von Gallen, gering geachtet. Die Erforschung des hochinteressanten komplexen Wachstumsprozesses des Pflanzengallengewebes und der Struktur der Galle durch den unbekannten Stimulus der Larve steht daher erst am aller ersten Anfang.
Peer Schilperoord, Alveneu, CH (Buchvorstellung):
In dem Buch «Metamorphosen im Pflanzenreich» [P. Schilperoord 2011, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart] macht der Autor Vorschläge für eine Erneuerung der Metamorphosenlehre. Er berücksichtigt sowohl die Fortschritte, die die Morphologie seit Goethe gemacht hat, als auch die Ergebnisse der molekular-genetischen Forschung der letzten 20 Jahre. Inhaltlich richtet sich das Sachbuch an Botaniker, Genetiker, Philosophen und an alle, die sich an der Metamorphose der Pflanze freuen.
Das Buch enthält eine Reihe von neuen Ansätzen u.a.: Die klassische Metamorphosenlehre ist eine Blattmetamorphosenlehre. Die Entwicklung der Pflanze verläuft zyklisch. Und so soll eine Metamorphosenlehre den ganzen Lebenszyklus von der Keimpflanze über die Blüte bis zur Embryobildung umfassen. Anstelle der klassischen Grundorgantheorie, welche die Pflanze unterteilt in Wurzel, Blatt und Sprossachse, wird von einer doppelten Gliederung auf der Basis der «organischen Entzweiung» ausgegangen. Das Konzept der organischen Entzweiung ist alt und geht auf Goethe zurück. Seine Bedeutung blieb jedoch unerkannt. Die Blütenorgane Staubblatt und Fruchtblatt sind das Ergebnis eines Zusammenspiels von vegetativen und generativen Grundorganen. Sie sind keine reine Metamorphose des Laubblattes. Der Typus-Begriff vereint zwei Begriffe: Modell und Schlüssel. Schlüssel setzen das Modell in Bewegung. Ausgehend vom Modell, kommt man mit Hilfe der Schlüssel zur Vielfalt der Formen. Die Bedeutung der Prozesse wird im Buch hervorgehoben, jene des Modells relativiert. Es gibt kein Grundmodell für die Vielfalt der Blattformen.