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Nachruf: Professor Dr. Otto Kandler (1920–2017)

Professor Dr. Dr. h.c. Otto Kandler mit dem Modell von Pseudomurein. Foto: privat, mit freundlicher Genehmigung der Familie Kandler

Ehrenmitglied der DBG Otto Kandler, Inhaber des Lehrstuhls für Botanik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wurde als Kind für seine Darwin-Begeisterung bestraft, doch sein biologisches Interesse blieb. Er widmete sich zahlreichen Disziplinen: Er untersuchte Physiologie, Biochemie und Systematik von Pflanzen und Bakterien und entdeckte physiologische Prozesse, wie erstmals die lichtabhängige ATP-Bildung in vivo oder die Synthese verzweigt-kettiger Monosaccharide. Gemeinsam mit Carl Woese entwickelte er das Drei-Domänen-Konzept des Lebens. Kandler ist vor kurzem im Alter von 96 Jahren verstorben. Sein Schüler, Professor Dr. Widmar Tanner, erinnert in seinem Nachruf an Leben und wissenschaftliches Werk der vielfach ausgezeichneten, temperamentvollen und diskutier-freudigen Wissenschaftlerpersönlichkeit.

Otto Kandler verstarb am 29. August 2017 in München. Am 23. Oktober 1920 in Deggendorf in Niederbayern als sechstes Kind einer Gärtnerfamilie geboren, besuchte er acht Jahre die Volksschule und interessierte sich früh für Botanik bzw. für Biologie ganz allgemein. Als er mit 12 Jahren dem Religionslehrer davon berichtete, dass er Bücher über Charles Darwin lese, bekam er dafür Stockhiebe; möglicherweise bestärkte dies aber nur sein Interesse, so dass ihn ein Leben lang evolutionsbiologische Fragestellungen besonders beschäftigten. Seine Lehrer ermunterten die Eltern, ihren Sohn weiter studieren zu lassen. So besuchte er von 1935 bis 1938 die „Deutsche Aufbauschule“ in Straubing, eine Lehrerbildungsanstalt für begabte Kinder aus nicht vermögendem Hause.

Notabitur, Schuttschaufeln und Photosynthese

Während des gesamten 2. Weltkrieges diente Otto Kandler als Bodenfunker in der Wehrmacht in Russland, bevor er 1946 nach einem Notabitur das Studium der Botanik, Zoologie, Chemie und Physik an der Ludwig Maximilians-Universität in München aufnahm. Als Voraussetzung für die Zulassung zum Studium musste er, wie damals üblich, Schutträum- und Aufbauarbeiten nachkommen; es waren für ihn etwa 500 Stunden. 1949 promovierte er mit „summa cum laude“ mit einer Arbeit über die Nutzung pflanzlicher Gewebekulturen für stoffwechselphysiologische Fragestellungen, die er bei Karl Suessenguth anfertigte. Von 1949 an war er als wissenschaftlicher Assistent, bzw. nach seiner Habilitation 1953 als Privatdozent bis 1957 an der LMU tätig. Ein Rockefeller-Stipendium ermöglichte ihm 1956/57 einen Aufenthalt in den USA; dort arbeitete er in den Laboratorien von Martin Gibbs und Melvin Calvin an zentralen Fragen der Photosynthese.

Bakterienzellwände, Resistenz und Milchwirtschaft

Neben seinen pflanzenphysiologischen Kerninteressen hat sich Kandler parallel schon früh für Bakterien, vor allem für das Vorhandensein bzw. Fehlen ihrer Zellwände interessiert. Zusammen mit seiner Doktorandin und späteren Ehefrau, Gertraud Schäfer, publizierte er aufsehenerregende Arbeiten über die sog. PPLOs, zellwandlose, Penicillin-resistente Bakterien (jetzt Mycoplasmen); Arbeiten, die selbst heute noch zitiert werden, so z. B. 2009 in "Nature".

Im Jahr 1957 übernahm Otto Kandler die Leitung des Bakteriologischen Instituts der Süddeutschen Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Freising-Weihenstephan; eine sehr mutige Entscheidung, da ihm jedwede milchwirtschaftlich-mikrobiologische Erfahrung fehlte. Auch nach seiner im Jahre 1960 erfolgten Berufung auf den Lehrstuhl für Angewandte Botanik an der TU München – inzwischen längst ein weithin anerkannter milchwirtschaftlicher Experte – behielt er bis 1965 die Leitung des Freisinger Instituts bei. 1968 wurde Otto Kandler auf die Professur für Allgemeine Botanik an die LMU berufen;1985 wurde er emeritiert.

Systematik bis Physiologie

Als Wissenschaftler verfügte Kandler über eine erstaunliche Breite, wie wir sie heute kaum noch finden. So hat er nicht nur in der Botanik und in der Mikrobiologie durch seine Publikationen großes nationales und internationales Ansehen erworben, sondern sah sich als Pflanzenphysiologe über Jahre hin auch in der Lage, die Pflanzensystematik durch eine mehrstündige Vorlesung in der Lehre zu vertreten. Auch die Ökophysiologie hat er vermittelt und auf Exkursionen alle einschlägigen Messmethoden praktisch angewandt und gelehrt. Entsprechendes gilt für die Mikrobiologie, wo er taxonomische ebenso wie physiologisch-biochemische, Arbeiten mit großem Erfolg durchgeführt hat. Die wichtigsten Entdeckungen bzw. grundlegenden Arbeiten, die mit Kandlers Namen verbunden sind, stammen aus den Gebieten der Photosynthese, des pflanzlichen Kohlenhydratstoffwechsels, der Strukturaufklärung bakterieller Zellwände (Mureine/Peptidoglykane), der Systematik von Lactobazillen und einer Neukonzeption zur Phylogenie der Organismen; dazu gehören aber auch die engagierten und kritischen Beiträge zum sog. Waldsterben.

ATP und Zucker

So hat Kandler zu Beginn der 1950er Jahre bereits aus in vivo-Versuchen auf eine lichtabhängige ATP-Bildung geschlossen, Befunde, denen Daniel Arnon, der die Photophosphorylierung in isolierten Chloroplasten nachgewiesen hat, später vollen Kredit gezollt hat. Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat Kandler das Vorkommen von ADP-Glucose, den Glucose-Donor der Stärkebiosynthese, zum ersten Mal in Pflanzen nachgewiesen. Er hat wesentlich zur Aufklärung der komplizierten Biosynthese verzweigt-kettiger Monosaccharide (Hamamelose, Apiose) beigetragen und schließlich die Biosynthese der in Pflanzen häufigsten Oligosaccharide, der Zucker der Raffinose-Familie, aufgeklärt. Im Zusammenhang mit dem zuletzt genannten Befund wurde die Funktion des Galaktinols, eines Galaktosids des Inositols, als Galaktosyl-Donor und somit jene des Inositols als Cofaktor von Zuckertransfer-Reaktionen in Pflanzen entdeckt.

Drei Domänen der Organismen

Die Untersuchungen zur Zusammensetzung und Primärstruktur des bakteriellen Mureins, dessen Vielfalt Kandler überhaupt erstmals erkannte, führte zu einer verbesserten Klassifizierung der Gram-positiven Bakterien. Der von seiner Arbeitsgruppe geführte Nachweis des Fehlens eines echten Murein-Sacculus bei den Archaebakterien (heute „Archaeen“) war ein wesentlicher Befund für die Abtrennung dieser Organismengruppe von den Bakterien. Bei einigen der Archaeen konnte eine neuartige Zellwandkomponente, das Pseudomurein, nachgewiesen und in seiner Struktur aufgeklärt werden. Ein besonderes Steckenpferd Kandlers war die Physiologie und Systematik der Lactobazillen, über die er auch das einschlägige Kapitel in „Bergey’s Manual“, der „Bibel“ der Mikrobiologen, verfasste. Zuletzt hat er sich mit auf-sehenerregenden Arbeiten zur Evolution und zu einer globalen Klassifizierung aller Organismen in drei Domänen hervorgetan, eine Neugliederung, die er in Zusammenarbeit mit Carl Woese konzipierte, den er den „Darwin des 20sten Jahrhunderts“ nannte. Schließlich war es Kandler, der als erster deutscher Mikrobiologe die Bedeutung der Archaeen erkannte und dem es durch seine Überzeugungskraft gelang, in Deutschland eine Forschungsaktivität auf diesem Gebiet auszulösen, wie sie weltweit einmalig war.

Gegen den Trend: Waldsterben früh angezweifelt

So wie sein großer mikrobiologischer Wissensfundus dazu beigetragen hat, die Lösung bestimmter Umweltprobleme praktisch voranzutreiben, so haben Kandler, den Botaniker, in der Diskussion um das sog. Waldsterben besonders einseitige Darstellungen und einfältige Deutungen auf den Plan gerufen. Der Vorstellung von der anthropogenen Zerstörung des Ökosystems Wald hielt er seine Epidemie-Hypothese entgegen, getragen von dem Bewusstsein, dass die mitteleuropäischen Wälder in vergangenen Jahrhunderten, also lange vor Industrialisierung und Autoverkehr, schon mehr als eine Kalamität überstanden hatten. Dabei hat Kandler nach seiner Emeritierung neben intensiven Ortsbegehungen eine immense Archivauswertung und Dokumentation durchgeführt, die in ihrer Solidität Ihresgleichen sucht. Es muss ihn in seinen letzten Jahren gefreut haben, dass sich mehr und mehr die Meinung durchsetzt, dass das Waldsterben keine wissenschaftliche Hypothese, sondern eher ein politischer Irrweg war. 

Auszeichnungen und Ehrungen

Kandler hat sich auch in der Hochschul- und Wissenschaftspolitik für die Universitäten und für die Fächer Botanik und Mikrobiologie verdient gemacht. Er war 1962 Dekan der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften der TU München und 1973/74 Dekan der Fakultät für Biologie der LMU. Von 1969 bis 1976 war er Mitglied des Senats und des Hauptausschusses der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er war Mitherausgeber der „Zeitschrift für Pflanzenphysiologie“, der „Archives of Microbiology“ und der „Systematic and Applied Microbiology“; letztere  hat er gegründet. Otto Kandler war Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenmitglied der Regensburgischen Botanischen Gesellschaft, der ältesten botanischen Gesellschaft der Welt. Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Gent, Belgien, und jene der Technischen Universität München. Für seine grundlegenden Arbeiten auf dem Gebiet der Bakteriensystematik wurde er 1982 mit dem Bergey-Award ausgezeichnet und 1989 mit der Ferdinand Cohn-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie. Von seinen Schülern wurden vier auf einen pflanzenwissenschaftlichen und 13 auf einen mikrobiologischen Lehrstuhl berufen.

Otto Kandler war eine außerordentlich vitale, temperamentvolle und diskutier-freudige Wissenschaftlerpersönlichkeit. Hinter seiner kämpferischen Natur hat man den feinsinnigen Kunstkenner und -sammler nicht vermutet. Trotz seiner vielen beruflichen Aktivitäten war Kandler auch ein ausgesprochener Familienmensch; seine Frau Gertraud, drei Töchter und vier Enkel könnten viel davon erzählen.

Die deutsche Botanik und Mikrobiologie hat mit Otto Kandler, einer Forscher- und Lehrerpersönlichkeit mit seltener Ausstrahlung, einen auch international hochangesehenen Wissenschaftler verloren.

Im November

Prof. em. Dr. Widmar Tanner, Uni Regensburg

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